DeDe im Wunderland

1. Genese - Jedes Mal, wenn DeDe David Gessert eines seiner großformatigen Acryl-Bilder malt, tritt er wie Alice durch den Spiegel. Wir als sein Publikum sehen ihn dann, oft im Ringelpulli, hinein geschlüpft in die Gestalt eines zentralen Helden - inmitten eines Strudels von Codes, von Requisiten und Kulissen - wie auf einer imaginären Bühne - assistiert von freundlichen Helfer-Wesen oder auch gelegentlich in Begleitung eines dunklen Gegenspielers - selbst-versunken, jonglierend oder tanzend - im Anderswo seiner eigenen Innenwelt. Kunst-induzierte Trance, Entrückung, Verführung - umspült von Klängen des Flamenco signalisiert der kaum bekleidete Latin-Dancer mit dem Halekin-Gesicht: Folge mir!

 

2. Analyse: die Zeichnungen - Sie lassen sich verstehen als ein direkter Rekurs auf die Flyer-Kultur der Feier-Kultur - Echo auf die Triade aus Bild, Schrift und Appell, die allnächtlich in den verschiedenen Berliner Subkulturen um die Aufmerksamkeit der party-people buhlt. Was dort hedonistisch-kommerziell gemeint ist, wird von Gessert in seinen lichten Federzeichnungen transformiert in die verschiedensten Phasen und Situationen einer Suche nach sich selbst: Sich spüren wollen, das eigene Glück zelebrieren, das eigene Kreuz tragen, das eigene, innere Monster lieben, dem inneren Dämon widerstehen, sich von Begrenzungen befreien. Was da fortfliegt auf dem Blatt mit den hermetisch heilenden Doppel-Schlangen sind ausgerechnet Bretter - sind es die Bretter der Bühnen, die ansonsten auch für einen Künstler immer wieder die Welt bedeuten? Betrachtet werden, beachtet werden, gesehen werden, geliebt werden - und auf diese Weise immer unter Kontrolle sein? Meistens ist der zentrale Protagonist auf Gesserts Zeichnungen männlich. Was stets auffällt, sind seine ausdrucksstarken Füße und die oft stark behaarten Waden - Gessert selbst ist leidenschaftlicher Turnier-Tänzer. Oberhalb der unteren Gliedmaßen jedoch setzt der Körper oftmals plötzlich aus. Es gibt auf den allermeisten Zeichnungen bei der Hauptfigur keine feste Kontur, die eine geschlossene Körpergestalt entstehen ließe. Dennoch finden sich Arme, Hände, Kopf und Schultern an genau den Positionen ein, die auch ein konsistent strukturierter Körperbau erwarten ließe - so, als würde die Gestalt dort, wo der sichtbare Zeichenstrich fehlt, auf einer unsichtbaren, ätherischen Ebene fortgesetzt - was impliziert, dass das dargestellte Geschehen nicht nur materielle, sondern auch seelische Dimensionen umfasst. Oder ist der ausgeblendete Bereich ein explizit intimer, der sich demonstrativ dem öffentlichen Blick entzieht? Um was es sich bei den dargestellten Situationen im besonderen handelt, will einerseits durch die eingesetzten Symbole erschlossen werden: Universal-Symbole gelegentlich wie das Plus oder das Andreas-Kreuz, ansonsten Zeichen aus sakralen und aus profanen Kontexten, Reminiszenzen aus der U- und aus der E-Kultur. Andererseits betreffen auch die eingefügten Text-Elemente den Sinn. Ihr Gehalt lässt sich teils anekdotisch, teils programmatisch, teils ironisch oder sogar lautmalerisch auffassen, ihre Form verleiht den Zeichnungen jenen beiläufigen Charakter, der einen schnellen, gierigen Zugriff nahelegt und einen leichten Konsum verspricht - und damit täuscht. Denn jede einzelne Zeichnung bewahrt sich widerständig trotz der vielfältigen Deutungs-Angebote ihre Offenheit. Und vieles, was die Zeichnungen ausmacht, tritt auch auf den Bildern auf.

 

3. Analyse: die Bilder - Mit ihren übergroßen Formaten bieten sie im Vergleich zu den Zeichnungen natürlich erheblich mehr Raum, und den nutzen sie. Das Code-Gemisch, aus dem sie sich zusammen setzen, ist noch weit komplexer als auf den Zeichnungen: es gibt Bekanntes aus der Comic-Welt wie Fix und Foxi, Vegetabiles aus den Bio-Sphären einer irrealen Botanik, es gibt himmlische Besucher aus barocken Engels-Hierarchien und Buttons und Smilies aus den Oberflächenstrukturen der modernen Daten-Verarbeitung - hinzu kommen jede Menge fliegender, Phallus-ähnlicher Stangen und Stäbe und Wolkenketten und Signalbänder und Einfaltungen und Aufwürfe und Kugeln und Scheiben, und alles ineinander geschoben und verwoben zu einem chaotisch-amorphem Gemisch - dem parallel zum Bildrand aufgemalte Rahmen-Strukturen zwar Halt geben, wobei sich deren Ornamentik ebenfalls beständig ändert, und die Rahmen-Streifen unter den nach außen drängenden, überbordenden Bildelementen stellenweise gleichsam doch verschwinden. Allerdings sind auch in das vermeintliche Chaos fast unmerklich Achsen und klassische Gestaltungsprinzipien der Komposition eingeschrieben, und zwar so, dass sich stets dynamisch-ausgewogene Gleichgewichte herstellen. Ähnliches gilt für die Farbigkeit: kunterbunt wirkend auf den ersten Blick, ergeben sich bei genauerer Betrachtung kontrapunktisch angelegte Farbklang-Felder - wobei vor allem der für Gesserts Malerei in dieser Phase charakteristische Farbkontrast von Violett und leuchtend hellen Grün-Tönen dem jeweiligen Bildkorpus eine magisch-metaphysische Anmutung verleiht, die innerhalb der farbenreichen Fröhlichkeit auch Abgründiges erahnen lässt - und die Motivik pflichtet dem stellenweise bei, wenn sich aus dem Untergrund herrenlose Arme nach dem Protagonisten ausstrecken oder sich ein wehrhaft bezahnter, dunkler Schwarzwild-Keiler neben dem Helden breitmacht.

 

4. Synthese - Wenn man das Reduzieren, das Minimieren und die Askese als die artistischen Essenzen der klassischen Moderne begreift, dann markiert die Position von David Gessert eine Art Gegenpol: Er feiert die Fülle, er zelebriert den horror vacui und er inszeniert seine inneren Welten als rauschhaftes Fest der Farben. Malerei als Prozess, in dessen Verlauf zu Beginn das Ende noch nicht einmal ansatzweise auszumachen ist - Malerei als ein Aufgreifen und Entäußern von allem, was dem Künstler Freude macht, als ein Eintreten in Zustände jenseits des Kalküls, wobei alles Gewusste und Gelernte dennoch gleichfalls einfließen darf - doch niemals mit der Intention, womöglich zeitlosen Wahrheiten oder apollinischen Schönheits-Idealen zu huldigen, sondern immer in der Nachfolge des Dionysos - in einem zulassenden Weitergeben der Schöpfungsimpulse, die von Innen kommen und die dem Individuellen und Gefühlten auf der Leinwand einen Ort verleihen - und deren Magie auf ihre Weise auch herausführt aus den Begrenzungen der gewordenen Persönlichkeit - im Transfer durch DeDe's Wunderland.