"...SED FAS LIMITIBVS SE TENVISSE SVIS

Es ist wohl dem Privatfernsehen, das in geradezu enzyklopädischem Eifer auch die letzte Facette der Sexualität mit grellem Licht ausgeleuchtet hat, zu verdanken, dass heute selbst im entlegensten Alpental die Menschen eine lebhafte Vorstellung von Dingen haben, die ihnen vor kaum einem Jahrzehnt noch als böhmische Dörfer erschienen sind. Digitale Photographie und der nahezu jedermann zugängige Computer haben die letzte moralische Instanz hintergangen, die Drogistin, bei der man seine Urlaubsfilme entwickeln ließ und vor der man sich keine Blöße mit bunten Bildern aus dem Schlafzimmer geben wollt. Das Internet schließlich hat die Veröffentlichung eben solcher Delikatessen, die früher nur unterm Ladentisch zu finden waren, zum Kinderspiel werden lassen. All dies zusammen hat zu einer epidemischen Bilderflut geführt. Kaum eine Hemmschwelle, die nicht längst beseitigt wäre, kaum ein Körperteil, dass nicht wert wäre, sich damit selbst anzupreisen und offensichtlich kein Gefühl für die Peinlichkeit solcher Selbstdarstellung, die mitunter eher einer Selbsterniedrigung gleichkommt.

"...doch ziemt es sich innerhalb seiner Grenzen zu halten. Diese Umschrift eines Druckes aus dem 16. Jahrhundert, der den Sturz des Ikarus zeigt und David Gessert zu dem "Fallenden" inspiriert hat, verbindet die auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Arbeiten. Jedoch ist es nicht der moralisierende Fingerzeig, der in seinen Arbeiten steckt, vermeintlich schönen Spiegelbildes zeigt.

Die schule Welt, die in Selbsthypnose ihre Vorreiterrolle beschwört, hat sich das Medium Internet auf exzessive Weise zur Schaubühne gemacht. Sie präsentiert sich dort völlig schamlos, zeigt die buntesten An- und Einsichten im festen Glauben, es seien die schönsten im ganzen Land. Diese verblendete Selbstdarstellung und - Überschätzung greift David Gessert in seinen Arbeiten auf. Übernimmt die Posen der Anbiederung und kommentiert sie mit greller Farbigkeit, die in ihrer Gesamtheit auf den ersten Blick düster und abschreckend wirkt, sich aber zügig erschließt und zu faszinieren beginnt. Der Titel verleiht ihnen den ironischen Unterton, der uns zum genüßlich entsetzten Betrachter macht, ohne dass man zu einer moralischen Position angehalten wird. Vielmehr kann man sich all die schrecklichen Bilder in Erinnerung rufen, die man selbst schon gesehen hat, unsicher, ob man vom Grauen erschüttert oder nicht doch ein wenig in den Bann gezogen ist.

Die Gemälde, die so deutlich diese eindeutige Motivwelt umsetzen, stammen aus der Abschlussarbeit von David Gessert als Meisterschüler der Universität der Künste in Berlin.

Die großformatigen Wunderland-Bilder entstehen als Reaktion auf die Abschlussarbeiten und greifen sie durch Motivübernahmen mitunter direkt auf. Mit geradezu fröhlichen Farben und aus dem Rahmen rutschenden Figuren, die scheinbar unbeobachtet bei Nacht ein Eigenleben beginnen. Doch dieser Eindruck ist trügerisch, David Gessert beschäftigt sic h weiter mit der grenzenlosen Eitelkeit realer Menschen und er angenommene Befreiungsschlag in den Farben findet nicht wirklich statt. Auch die Abschlussarbeiten der Meisterklasse haben ähnlich in der Farbigkeit begonnen, sind dann aber in einem langwierigen Prozess aus Schaffen und Verwerfen in immer neuen Schichten auf die Leinwand gekommen, bis David Gessert seine Idee umgesetzt gesehen hat. In den Wunderland-Bildern hat ihn das große Format gezwungen, die Farbe dünn aufzutragen, da sie sich aus Platzmangel nur aufgerollt aufbewahren lassen und dicke Farbschichten abplatzen worden. Dieser geradezu banal begründete Zwang, das spontan Entstandene als endgültig bestehen zu lassen, macht die besondere Lebhaftigkeit der Bilder aus fordert durch das wenig reglementierte zur erforschenden und ausgesprochen spannungsreichen Betrachtung.

Die Engelsgestalten entwickelt David Gessert nach einer Malpause, in der er nur zeichnet. Auch wenn er sich an die Formensprache der Manierismus und Baroch anlehnt, ist es wiederum die Farbigkeit und Gestaltung, die Zweifel an den Bekannten und dekorativen Motiven aufkommen lassen. Der fallenden Engel schließlich ist der Schlüssel, an die Figur des Ikarus angelehnt, steht er für die Selbstüberschätzung, den Glauben, sich erheben zu können und den daraus folgenden Sturz in die Tiefe.

Die Zeichnungen sind zum Teil Vorarbeiten zu den Gemälden, variieren das Thema auf der Suche nach dem schlüssigen Motiv und dem richtigen Entwurf. Gerade bei diesen Blättern wird der Prozess von Entwerfen und Verwerfen besonders deutlich, denn auch sie bestehen aus mehreren Schichten. Für nicht gut befundenes wird von David Gessert einfach übermalt, entweder spontan über das alte gezeichnet und die Reste der vorangegangenen Zeichnung mit Tusche geschwärzt, oder er grundiert das Blatt völlig mit deckender Farbe, um auf einem neutralen Grund neu beginnen zu können.

Ralf Dittrich, Druckschrift Galerie Dittrich & Schneider (2005)